Konfliktregionen im östlichen Europa
Schwerpunkt der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE)
Projektleitung: Prof. Dr. Peter Haslinger (Direktor des Herder-Instituts), Prof. Dr. Monika Wingender (Geschäftsführende Direktorin des Gießener Zentrums östliches Europa)
Administrative Koordination: Dipl.-Phil. Aksana Braun, Justus-Liebig-Universität Gießen
Projektförderung: Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE), Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Kooperationspartner: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Deutsches Polen-Institut Darmstadt, Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, Schader-Stiftung in DarmstadtLaufzeit: 01/2017 – 09/2021
Projektwebseite: http://www.konfliktregionen.de/Über die aktuelle Ukraine-Russland-Krise hinaus analysiert der Projektverbund die Geschichte und die Gegenwart weiterer Konfliktregionen im östlichen Europa. Durch welche Akteure und Medien werden Konflikte konstruiert? Wie manifestieren sich die Konflikte? Welche Dynamiken kennzeichnen die Konfliktverläufe und wie sind konkurrierende Interpretationen zu bewerten?
Diesen und weiteren Fragen gehen die Forscherinnen und Forscher in insgesamt 12 Postdoc- und Promotionsprojekten nach. Der Schwerpunkt nimmt „Konfliktregionen im östlichen Europa“ in den Blick und legt die Forschungsvorhaben bewusst thematisch breit und interdisziplinär an. Beteiligt sind die Fachgebiete Osteuropäische Geschichte, Slavistik, Turkologie, Politikwissenschaft und Soziologie.
Die Qualifikationsprojekte werden von einem Transferprojekt begleitet, das zahlreiche öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wie Medienpartnerschaften, Ost-West-Tandem-Autorenschaften und Ost-West-Dialog-Symposien vorsieht. Hier wird Wissen als Deutungswissen für Politik und Medien angeboten. Der LOEWE-Schwerpunkt nutzt dabei die neuen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten und unterstützt durch entsprechende Lehrmaßnahmen im internationalen Projektnetzwerk die Reflexion über die konkurrierenden Deutungsgrundlagen in Ost und West.
Bedeutend ist die laufende Forschung auch im Hinblick darauf, dass durch diesen LOEWE-Schwerpunkt der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ und die sowohl in der Leibniz-Gemeinschaft wie an der Universität Gießen bereits stark vertretenen Kompetenz zum Östlichen Europa eine neue Qualität erlangt und zu weiteren Projektinitiativen führen kann.
Konkurrierende Konzepte von Governance: Die Freie Stadt Danzig und der Völkerbund zwischen lokalem und transnationalem Konfliktmanagement (1919-1939)
Teilprojektleiter: PD Dr. Christian Lotz
Bearbeitung: Adrian Mitter M.A., Dorá Hollstein
Bis in die Gegenwart geht die Unterstellung einer Konfliktregion unter internationale Kontrolle mit der Erwartung einher, vorhandene Konfrontationen nicht weiter eskalieren zu lassen bzw. langfristig zu befrieden. Auch die Akteure im 1920 gegründeten Völkerbund erwarteten nach dem Ersten Weltkrieg, dass sich der Streit zwischen Polen und Deutschen um die Stadt Danzig auf solchem Weg lösen ließe. Bisher sind in erster Linie die ideologischen und propagandistischen Konfrontationen um die nationale Zugehörigkeit Danzigs zum deutschen oder polnischen Staat sowie die Strategien des Völkerbunds zu deren Entschärfung untersucht worden. Demgegenüber sind Governance-Konzepte auf deutscher, polnischer und internationaler Seite hinsichtlich der praktischen Herausforderungen für Verkehr, Handel, Wirtschaft und Ökologie der Freien Stadt Danzig zwischen den Weltkriegen kaum beachtet worden. Das Teilprojekt nutzt daher Danzig als Beispiel, um (a) das Verhältnis zwischen lokalen, nationalen und transnationalen Handlungsspielräumen und Governance-Konzepten zu erforschen, und (b) um das Ineinandergreifen von politischen, ökonomischen und ökologischen Faktoren bei der Verschärfung oder Entspannung des Konflikts zu analysieren.
Das Teilprojekt fokussiert mit der Freien Stadt Danzig einen eng begrenzten Raum, so dass es die Verflechtung von lokalen und transnationalen Elementen analysieren kann. Als einziges Teilprojekt bearbeitet es den Völkerbund und damit eine internationale Organisation vor 1945, deren Leistungen, aber auch Scheitern die Einrichtung ähnlicher Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Anspruch an die Leistungskraft verschiedener Governance-Konzepte maßgeblich prägte. Schließlich erweitert es die räumliche Perspektive, indem das Danzig-Teilprojekt nicht nur eine weitere Region untersucht, sondern durch Danzigs Handelsbeziehungen auch Verflechtungen mit anderen europäischen und außereuropäischen Regionen beachtet.
Loyalitäts- und Minderheitenkonflikte in Lettland in der Zwischenkriegszeit
Teilprojektleiterin: PD Dr. Heidi Hein-Kircher
Bearbeitung: Vera Volkmann M.A.
Das Dissertationsprojekt analysiert die Auswirkungen der lettischen Nationalstaatsgründung als politische Zäsur auf die Minderheiten und deren Loyalität und deren Wechselwirkungen mit der staatlichen Minderheitenpolitik auf der lokalen und regionalen Ebene anhand der Beispiele der Städte Daugavpils und Aizpute. Die beiden Städte gehören zu zwei unterschiedlichen Regionen Lettlands, Lettgallen und Kurland, die in ihrer Geschichte jeweils Teil verschiedener Staaten waren und deshalb über unterschiedliche Minderheitenlagen verfügten und spezifische Traditionen entwickelten. Interessant ist, wie sich Loyalitäten unter sich wandelnden politisch-sozialen Bedingungen neu formierten und hierdurch die Beziehungen der ethno-konfessionellen Gruppen auf der lokalen Ebene und auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen Minderheiten und Staat veränderten. Die Frage nach der Loyalität ist deshalb besonders spannend, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Veränderung des sozialen und politischen Gruppenstatus entlang einschneidender Zäsuren, wie der Gründung eines Nationalstaats, steht und konkurrierende Loyalitäten und Loyalitätsforderungen entstehen . Zudem ist der Begriff, anders als „Identität“, weniger emotional aufgeladen und lässt sich besser am Verhalten der einzelnen Gruppierungen sowie am Verhältnis zwischen Minderheiten und Staat messen. Dabei ist das Verhältnis der Minderheiten zum Staat, zur „Mehrheitsbevölkerung“, zu anderen Minderheiten, zu ihrem konnationalen Staat und innerhalb verschiedener sozialer und politischer sowie religiöser Gruppierungen der Minderheiten zu untersuchen. Durch eine ausführliche Einordnung in den historischen Gesamtzusammenhang und den Vergleich zweier Städte mit unterschiedlichen Voraussetzungen können Loyalitätswechsel, aber auch Konfliktsituationen genauer ausgelotet werden.
Geschichtspolitik, Identitätsökonomien und Integrationskonzepte als konstituierende Faktoren des russisch-ukrainischen Krisenraums (1945-2015)
Teilprojektleiterin: Dr. Anna Veronika Wendland
Bearbeitung: Irena Remestwenski M.A., Anastasiia Lytvynenko
Konflikte um die Deutungshoheit in der Geschichte der Ukraine begleiten die neuere und neueste Geschichte dieses Landes seit der Konstituierung der modernen ukrainischen Nationalbewegung. Dabei ging es infolge der langjährigen Zugehörigkeit ukrainischer Territorien zum Russischen Reich bzw. der Sowjetunion immer auch um die Interpretation der ukrainisch-russischen Verflechtungsgeschichte. Bestimmte Formen historischer Erinnerung im Spannungsfeld ukrainischer und russischer Geschichte wurden dabei in Abhängigkeit von politischen Konstellationen und den damit verbundenen Integrationsprojekten privilegiert, andere diskriminiert. Geschichtspolitische Kontroversen um die Rolle der Ukraine in einem russisch dominierten Eurasien oder in einem neu zu definierenden europäischen Raum befeuern wiederum auch geopolitische Diskurse um die Persistenz globaler kultureller Konfliktlinien im östlichen Europa.
Mit Blick auf die Aufgabe des Schwerpunktes, die Bereitstellung von Deutungswissen über Mechanismen der Genese von Konflikträumen im östlichen Europa, bildet das Teilprojekt zwei Arbeitshypothesen über die Rolle von Geschichtspolitik bei der Generierung des russisch-ukrainischen Konfliktraums. Diese sollen empirisch und systematisch geprüft werden.
Hypothese 1 besagt, dass geschichtspolitische Konfliktfälle sich im ukrainisch-russischen Diskurs um bestimmte geschichtsterminologische Felder gruppieren, die als Verdichter und Marker für kontroverse Inhalte fungieren. Diese beziehen sich häufig wiederum auf unterschiedliche Konzepte politischer Integration.
Dazu gehören 1) die sich gegenseitig beeinflussenden, aber auch widerstreitenden imperialen Selbstkonzepte des Kleinrussen (maloross) im 19. bzw. Sowjetmenschen im 20. Jahrhundert sowie das national-kulturelle Selbstkonzept des Ukrainers,
2) die ukrainische Staatlichkeit und Territorialität im Spannungsfeld zwischen Nationalstaatsversuch (1917-1920), Sowjetukraine (1922-1991) und Unabhängigkeit seit 1991,
3) die Kriegs- und Gewalterfahrungen 1930-1945 im Spannungsfeld von Opfer/Täter, Widerstand/Kollaboration (mit Bezug auf die NS-Besatzung) und Befreiung/Besatzung (mit Bezug auf die Restituierung sowjetischer Herrschaft) sowie
4) die sowjetukrainische Erfahrung seit 1945 als Modernisierung vs. Russifizierung.
Hypothese 2 legt als Vermutung zugrunde, dass politische Akteure solche kontroversen Felder entweder mit dem Ziel der Partizipation an politischer Macht oder mit jenem des Machterhalts nutzen, an eigene Zwecke anpassen und anreichern. Ziel ist es, historisches Deutungswissen über politische Bruchzonen zwischen der Ukraine und Russland bereitzustellen.
(Wissens)mediale Repräsentationen interethnischer und erinnerungspolitischer Konflikte: Westukraine, Siebenbürgen, Südslowakei seit 1980
Teilprojektleiter: Prof. Dr. Peter Haslinger
Bearbeitung: Dr. Eszter Gantner (bis August 2019), Dr. Tatsiana Astrouskaya (ab April 2020), Iryna Dolnytska
Auch heute finden wir im östlichen Europa zahlreiche Beispiele für die dynamische Verschränkung von politischen, interethnischen und erinnerungskulturellen Konflikten. In diesen werden Minderheitenfragen gemeinsam mit konkurrierenden Interpretationen historischer Entwicklungen und außen- und geopolitischen Orientierungen verhandelt. Das Teilprojekt soll daher untersuchen, wie sich unter den Bedingungen einer veränderten Wissenschafts- und Medienlandschaft die Darstellung der Vergangenheit von Konfliktregionen in der wissenschaftlichen Literatur sowie in populärhistorischen Darstellungen fassen lassen. Dadurch soll für das Gesamtanliegen des LOEWE-Schwerpunkts deutlich werden, wie Deutungswissen in grenzüberschreitenden Dialogsituationen und Negativverschränkungen bereitgestellt und medial positioniert wird. Zu einigen repräsentativen Beispielen sollen auch massenmediale Kontexte (Zeitungen, Fernsehen, Internetquellen) mit einbezogen werden.
Das Projekt fokussiert dabei auf drei Regionen, nämlich die Westukraine, Siebenbürgen und die Südslowakei, die folgende Charakteristika aufweisen:
1) Sie waren im 20. Jahrhundert als interethnische Begegnungszonen das Objekt von erbittert ausgetragenen Territorialkonkurrenzen zwischen benachbarten Staaten und zudem von teils dramatischen demografischen Veränderungen gekennzeichnet (bis hin zu Deportationen und Massenmorden).
2) Diese Themen wurden im Untersuchungszeitraum von der Wissenschaft immer intensiver aufgegriffen und sukzessive auf-gearbeitet, dies jedoch teils in konfliktiver Weise, teils auch in Rückgriff auf neue Ansätze in der internationalen Forschung.
3) Seit den 1990er Jahren kam es in allen drei Regionen auch zu einer Neubewertung der regionalen Multiethnizität, vor allem zur Wiederentdeckung des jüdischen Anteils der regionalen Geschichte, aber auch zu fortdauernden Ausblendungen (etwa was die Geschichte der Roma betrifft).
4) In den Jahren, die hier den Untersuchungszeitraum bilden, standen diese Regionen auch im Fokus populärer Darstellungen, da sich die Medienlandschaften mit den politischen, ökonomischen und technischen Rahmenbedingungen (Transformation, Pluralisierung, Digitalisierung) tiefgreifend veränderten.