Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeit und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966-2021

Bearbeiterin: Dr. Anna Veronika Wendland (Habilitationsprojekt)

Das Projekt ist an einer Schnittstelle von Stadt-, Technik- und Umweltgeschichte angesiedelt. Es behandelt die „kerntechnische Moderne“ als zentrale Erfahrung in Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurde die Nukleartechnik nicht nur zum Entwicklungs- und Mobilisierungsfaktor, sondern auch zum Generator von Katastrophenerfahrungen, die wesentlich zur Wahrnehmung moderner Gesellschaften als entgrenzte „Risikogesellschaften“ beitrug. Im Zentrum der Untersuchung steht eine Fallstudie in der ukrainischen Atomstadt Kuznecovs’k/Varaš, die in vergleichender Perspektive mit zwei deutschen Vergleichsfällen im Weserbergland
und in Unterfranken zusammengespannt wird.

Die Geschichte der Atomstädte war auch eine Transformationsgeschichte von größtenteils agrarischen Landschaften der westlichen Sowjetunion, die durch Arbeitsmigration und soziale Mobilisierung gekennzeichnet war. Daneben gestalteten die nuklearen Großprojekte auch die Natur- und Kulturlandschaften um, in denen sie entstanden. Doch auch an den inneren Peripherien der Bundesrepublik wurde die Kernenergie zum Modernisierungsfaktor, ohne aber so tief in Landschaften und Sozialstrukturen einzugreifen oder gar städtebildend
wirksam zu werden wie in Osteuropa.

Ein weiterer Schwerpunkt der Studie ist die kerntechnische Arbeit, die Biografi en und soziale Identitäten prägte. Der Umgang mit der nuklearen Technologie und die Mensch-Maschine-Beziehungen im Kernkraftwerk sowie die Genese und Transformation nuklearer Sicherheitskulturen stellen ein wichtiges Untersuchungsfeld des Vorhabens dar. Zur Bearbeitung dieser Fragestellung wurde komplementär der Ansatz der industrial anthropology gewählt.

Das Manuskript wurde im Mai 2021 bei der Philipps-Universität Marburg als Habilitationsschrift eingereicht. Das Habilitationsverfahren wurde am 15. Dezember 2021 mit der Erteilung der Venia Legendi für das Fach Neuere und Neueste Geschichte abgeschlossen.

Projektbild AVWendland
Baustelle des KKW Rivne, ca. 1985. Im Hintergrund neben dem Schornstein die 440-MW-Blöcke 1 und 2, die nach älterer sowjetischer Bauweise in einem gemeinsamen Gebäude untergebracht wurden. Vorne der im Bau befindliche 1000-MW-Block 3, der bereits so wie die westlichen Anlagen ausgelegt war. RAES/O. Kyslyj