10.-13. Mai 2023, Herder-Institut, Marburg
Herrscherwechsel konnten in den dynastisch organisierten Herrschaftsbildungen des Mittelalters zu kritischen Konstellationen und Situationen führen. Die Herrschaftsnachfolge durch den ältesten Sohn oder durch das älteste männliche Mitglied des Familienverbandes gelang nicht immer konfliktfrei. Eine besondere Situation konnte sich ergeben, wenn ein zur Nachfolge vorgesehener Sohn zum Zeitpunkt des Todes des bisherigen Herrschers minderjährig war. In dem Fall wurde vielfach eine Regentschaft eingerichtet. Die Regentschaft konnte durch verschiedene Regelungen und Traditionen gestaltet sein. In manchen Fällen wurde sie von männlichen Verwandten des verstorbenen Herrschers übernommen. In vielen Fällen war die Witwe des verstorbenen Fürsten und Mutter des minderjährigen Nachfolgers in der Lage, die Regentschaft zu übernehmen, was im Interesse einer späteren unstrittigen Übernahme der Herrschaft von Vorteil sein konnte.
Für die Beantwortung der Frage nach dem Stellenwert, der Bedeutung und den verschiedenen Realisationen weiblicher Regentschaft ist anzuknüpfen an Forschungen zu thematisch benachbarten Fragestellungen, vor allem zur Frage der Regentschaft für minderjährige Herrscher, zur Witwenschaft von Fürstengattinnen und zu weiblicher Herrschaft im Mittelalter allgemein. Auf das Problem der Regentschaft für minderjährige Herrscher hat wohl als Erster Armin Wolf 1976 aufmerksam gemacht; ausführlich skizzierte diese Konstellation für das frühe und hohe Mittelalter Theo Kölzer und Thilo Offergeld breitete die entsprechenden Befunde aus und untersuchte sie für die Zeit vom 5. bis zum frühen 11. Jahrhundert. Das auffallende Phänomen etwa zeitgleicher minderjähriger Herrscher im Reich mit Heinrich (VII.) für 1220-1228, in England mit Heinrich III. für 1216-1223, in Aragón mit Jakob I. für 1213-1221 und in Frankreich mit Ludwig IX. dem Heiligen für 1226-1235 im frühen 13. Jahrhundert haben unabhängig voneinander Thomas Vogtherr und Christian Hillen ins Licht gerückt. Einzelne Konstellationen minderjähriger Herrscher wurden für die Heinrich IV. im Reich und für minderjährige Normannenherrscher in Süditalien im 12. Jahrhundert analysiert. Bei diesen Studien kam auch verschiedentlich die Rolle von Regentinnen zur Sprache.
Ein zweiter Zugang erfolgt über die Thematisierung der sozialen Stellung und der politischen Handlungsoptionen der Herrscherwitwe. Dieser Frage ist erst in jüngster Zeit Aufmerksamkeit geschenkt worden. Nach einem kursorischen Überblick für das frühe Mittelalter von Gunter Wolf und einer kleinen Studie zu den Königswitwen im hochmittelalterlichen Frankreich sind zuletzt größere Arbeiten zu Königswitwen im přemyslidischen Böhmen, im jagiellonischen Polen und im hochmittelalterlichen Reich und in England vorgelegt worden. In diesem Zusammenhang wurde beiläufig und auch grundsätzlich die zum Teil damit verbundene Funktion als Regentin für einen minderjährigen Thronfolger angesprochen. Besonders deutlich und eindringlich wurde die Funktion der Regentin in Arbeiten behandelt, die sich zusammenfassend Fragen der Herrscherin oder Königin im Mittelalter widmen. Ein solcher umfassender und vergleichender Ansatz, der über biographische Studien zu einzelnen Fürstinnen hinausgeht, wurde erst in den letzten zwei Jahrzehnten in der mediävistischen Forschung erprobt. Am Beginn steht ein von John Carmi Parsons herausgegebener Band zum mittelalterlichen Königinnentum.
Im östlichen Europa sind größere Studien zur Rolle von Fürstinnen für Polen, die Fürstentümer der Rus’ und Ungarn unternommen worden.
Für die Frühzeit der polnischen Geschichte bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts hat Grzegorz Pac die politischen und sozialen Betätigungsfelder der Frauen in der Piastendynastie untersucht. Einen umfassenden Überblick über die Fürstinnnen, die in der Piastenzeit Regentschaftsfunktionen wahrgenommen haben, legte Agnieszka Teterycz-Puzio vor, während für das spätere Mittelalter die politischen Profile der masowischen Herzoginnen skizziert wurde. Allgemeine Überblicke zum politischen Profil von Frauen in den Fürstentümern der Rus’ sind von Ljudmila Evgen’evna Morozova und Natal’ja L’vovna Puškarëva präsentiert worden. Für die vormongolische Rus’ liegen daneben ein systematischer Überblick über Titelgebung, Fragen der Nachfolgeregelung, Heiratspolitik, politische und religiöse Betätigungsfelder von Talia Zajac und eine Vorstellung der Fürstinnen von Černihiv in vormongolischer Zeit von Martin Dimnik vor. Die ungarischen Königinnen der Árpádenzeit und ihr politisches Profil sind nach einem kurzen Abriß von János Bak zusammenfassend von Attila Zsoldos gewürdigt worden.