Vortrag von Jürgen Warmbrunn im Rahmen der Tagung „NS-Bibliothekspolitik und -praxis in Europa“ in der Bibliothèque nationale du Luxembourg
Die Internationale Tagung wird von Claude D. Conter und Jean-Marie Reding geleitet.
Datum: 27.-29. Oktober 2022
Zu den Aufgaben der Luxemburger Nationalbibliothek gehört u.a. die Erforschung der Luxemburger Bibliothekslandschaft vom Echternacher Sriptorium bis ins 21. Jahrhundert. Die Tagung „NS-Bibliothekspolitik und -praxis in Europa“ schreibt sich in diesen Forschungsschwerpunkt ein. Ziel ist es, die Bibliothekslandschaft in den angeschlossenen und besetzten Gebieten im europäischen Vergleich zu beschreiben.
Ausgangspunkt der Tagung ist die Beobachtung, dass sich die Bibliothekslandschaften in Europa infolge der nationalsozialistischen Bibliothekspolitik wesentlich verändert hat. Zunächst wurde das Bibliothekswesen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland weitgehend umgekrempelt; neben Neubesetzungen und der politisch-ideologischen Umformung der Bibliotheken bestimmten das ›Generalreferat für das Bibliothekswesen‹ und der ›Reichsbeirat für Bibliotheksangelegenheiten‹ auch Veränderungen bezüglich des Ausbildungswesens, der Nutzungs-, Prüfungs- oder Katalogisierungsordnungen, wie etwa die Einführung des Deutschen Gesamtkatalogs. Vor allem aber wurden eine grundlegende Reform der Bestandspolitik und eine Aufteilung in unterschiedliche Kategorien von Bibliotheken mit je unterschiedlichen Aufgaben vorgenommen: wissenschaftliche Bibliotheken, ›Volksbüchereien‹ oder Schulbibliotheken. Wissenschaftliche Bibliotheken, also Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken, hatten aufgrund eines themen- und fächerübergreifenden Sammlungsauftrages eine weniger rigide Bestandspolitik als die ›Volksbüchereien‹, die zu einem zentralen Lenkungsinstrument der nationalsozialistischen Erziehungs-und Kulturpolitik wurden. Im Gegensatz zu den kommunal verwalteten ›Volksbüchereien‹ blieben die wissenschaftlichen Bibliotheken von den ›Säuberungen‹ der zumeist lückenhaften Listen und Inventare des ›schädlichen und unerwünschten Schrifttums‹ weitgehend verschont, wenngleich der Zugang und die Benutzung wissenschaftlicher Bibliotheken eingeschränkt oder gesperrt wurden; auch unterschieden sich die Prozeduren je nach Bibliothek und Ort; sogar die Titelaufnahme im Hauptkatalog oder in Sonderkatalogen wurde in den verschiedenen Gauen unterschiedlich gehandhabt.
Während diese Veränderungen bereits ausführlich analysiert wurden, ist die Situation in den von NS-Deutschland angeschlossenen, besetzten und regierten Gebieten bislang weiterhin wenig erschlossen. So gibt es in den betreffenden europäischen Ländern nur vereinzelte Studien darüber, wie Bibliotheken aufgelöst, Bibliotheksbestände beschlagnahmt und skartiert oder neue Bibliotheksformen eingeführt wurden. Diese Prozesse der institutionellen Neuausrichtung sollen bei der Tagung konkret beschrieben und analysiert werden. Wie bereits in jüngsten Studien zur NS-Kulturpolitik in Europa vielfach nachgewiesen wurde, ist davon auszugehen, dass sich in den jeweiligen besetzten Staaten und in den Regionen unter NS-Herrschaft nicht zwingend eine einheitliche Praxis durchgesetzt wurde. So führten die Bibliothekspolitik und -entwicklung im „Dritten Reich“ keineswegs dazu, dass vergleichbare Neuerungen und Praktiken auf identische Weise in den besetzten Gebieten durchgeführt wurden. Tatsächlich sind regional sehr unterschiedliche Handhabungen der NS-Buchpolitik in Bibliotheken zu beobachten.