Vortrag von Anna Veronika Wendland im Rahmen der Ringvorlesung Ukraine im Fokus an der Johannes Gutenberg Universität Mainz
Donnerstag, 14. Juli 2022, 18 Uhr
Abstract: Fragen wir nach den Ursachen des russischen Krieges gegen die Ukraine, so werden häufig geostrategische Gründe und russische Bedrohungswahrnehmungen infolge der NATO-Osterweiterung genannt. Ein viel wichtigeres Motiv aber ist das von Vladimir Putin und seinen Eliten immer wieder formulierte russisch-nationale Expansionsprojekt, das sich explizit gegen die Ukraine als souveränen Staat und gegen die Ukrainer als moderne Nation richtet. Aus diesem Grunde zielt die russische Aggression auch und gerade auf die Attribute der industriellen Modernität und Urbanität der Ukraine.
Mit Bomben auf die Industriestädte Charkiv und Mariupol und Panzern vor dem AKW Zaporižžja attackiert Putin die „Ukraina Moderna“, die sich bereits in der Sowjetukraine konstituiert hat. Auch aus diesem Grund richtet sich Putins Wut explizit gegen die von ihm so genannte „Lenin-Ukraine“, gemeint ist die Ukrainische SSR, die insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg den institutionellen Rahmen für die jüngere Nationsbildung der Ukrainer bildete. Urbanisierung, soziale Mobilisierung und industrielle Modernisierung, auch mit ambivalenten Technologien wie der Atomkraft, spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Der heutige Krieg wird daher nicht nur auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern auch über Technologie und Techno-Symbole. Im Vortrag wird dies exemplarisch am Beispiel des ukrainischen Stromnetzes erläutert, dessen Funktionsfähigkeit im Ukraine-Krieg nicht nur eine strategische, sondern auch eine symbolische Rolle spielt.
Zur Person: Dr. habil. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. In ihrer Habilitationsschrift über die kerntechnische Moderne hat sie sich mit der Rolle der Kernenergie und der Reaktorsicherheit in transeuropäischen Modernisierungs- und Transferprozessen befasst. Ihre Arbeit basierte unter anderem auf ausgedehnten Feldforschungen als Industrial Anthropologist in mehreren Kernkraftwerken in der Ukraine und Deutschland.
Zur Veranstaltungsreihe: Der Krieg in der Ukraine, welcher am 24. Februar 2022 mit dem russischen Angriff begann, stellt den grausamen Kulminationspunkt einer Eskalation dar, welche spätestens seit der Krim-Annexion 2014 die Herrschaftsansprüche der Russischen Föderation in kriegerischer und völkerrechtswidriger Form vor Augen führt. Als vermeintliche Grundlage seiner Aggression gegenüber der Ukraine macht der Kreml, allen voran Putin, die angebliche Unterdrückung von Russen auf dem Gebiet der Ukraine, aber auch ein eigenes Geschichtsverständnis geltend, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückreichen.
Zugleich sollte der Ukrainekrieg der deutschen und anderen westlichen Gesellschaften zum Anlass dienen, eigene Fehleinschätzungen, Zerrbilder und Wissensdesiderate hinsichtlich kultureller, sprachlicher, politischer und wirtschaftlicher Umstände und ihrer Ursprünge nachhaltig zu korrigieren. Die hier angebotene Ringvorlesung soll einen Beitrag leisten, um aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven über diese Hintergründe aufzuklären und zu einer vertieften Beschäftigung mit Sachverhalten anzuregen, die sich auf ein bislang wenig bekanntes Terrain „direkt vor unserer Haustür“ beziehen.
Informationen zur Teilnahme: Die Ringvorlesung ist öffentlich. Die Vorträge finden jeweils um 18 Uhr online statt. Sie können im Browser teilnehmen unter dem Link: https://bbb.rlp.net/b/rad-ief-jn2-nse.
Weitere Infos und Kontakt:
Prof. Dr. Björn Wiemer
Institut für Slavistik, Turkologie und zirkumbaltische Studien, JGU Mainz
E-Mail: wiemerb@uni-mainz.de
Internet: https://www.istzib.uni-mainz.de/