Geschichtsverständnisse zwischen ‚Postfaktizität‘ und neuen Evidenzen“
Bewerbungsfrist verlängert bis zum 10. Dezember 2022!
Leibniz Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“ – Jahreskonferenz 2023, Marburg, 14.-16. Juni
Veranstalter:
- Leibniz Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“
- Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (gastgebende Einrichtung)
- Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands
- AG Digitale Geschichtswissenschaft
- NFDI4Memory
- Marburg Centre for Digial Culture and Infrastructure (MCDCI)
- Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH)
- Ľviv Centre for Urban History
Die Tagung geht von der These aus, dass der digitale Wandel historisches Forschen und Erzählen von Geschichte derzeit umfassend und irreversibel verändert – mit bleibenden Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaften und ihren Stellenwert im öffentlichen Raum. Der Wert der Vergangenheit wird daher durch den digitalen Wandel vielfach neu zu bewerten sein, und auch das Verhältnis zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis wird neu austariert. Die Konferenzbeiträge sollen danach fragen, welche Evidenz- und Faktizitätskrisen durch veränderte Medienformate und Mediennutzungen aktuell entstehen. Sie sollen danach fragen, welche Bedeutung dies für die Ausbildung von Geschichtsverständnissen zukünftig haben wird. Dabei möchte die Tagung auch zu einer Problematisierung des Begriffs des „postfaktischen Zeitalters“ und seinem „positivistischen Bias“ beitragen.
Die Tagung wird das Jahresthema in mehreren Sektionen akzentuieren. Ein erster Schwerpunkt soll sich den epistemologischen Grundlagen des Themas widmen. Unter welchen (neuen) Bedingungen erfolgt die Kanonisierung historischer Narrative im digitalen Raum und wie entstehen entsprechende Erzähl- und Gedächtnisgemeinschaften? Wie ist die offensichtliche Rückkehr der „großen“ Geschichtserzählungen und Geschichtsmythen zu bewerten? Wie soll z.B. die Wissensvermittlung in Gedächtnisinstitutionen und Museen auf diese Art der „gefühlten Wahrheit“ reagieren?
Vor dem Hintergrund aktueller Geschichtsangebote im digitalen Raum sowie neuer Formen von digitalem Storytelling gilt es zweitens zu fragen, wie die Darstellung von Vergangenheit in digitalen Formaten historische Methoden zukünftig verändern wird. Hier sollen aktuelle Praktiken des Erarbeitens, Darstellens und der Diskussion von Fakten, Sachinformationen und Wertungen in den historisch arbeitenden Disziplinen und Forschungsmuseen mit Phänomenen außerhalb eines pluralistischen Wissenschaftsverständnisses kontrastiert werden. In den Blick geraten so historische Verschwörungstheorien, Desinformationskulturen und (pseudo)wissenschaftlich auftretende Vergangenheitserzählungen. Im Vordergrund steht die Frage, ob das „Postfaktische“ durch digitale Formate eher befördert wird und wenn ja durch welche? Welche Chancen ergeben sich aber auch aus der Auseinandersetzung mit fake pasts für die Weiterentwicklung historisch arbeitender Disziplinen? Welche Konsequenzen hat dies für die notwendigen Kompetenzen zukünftiger Historiker:innen?
Ein weiterer Schwerpunkt der Tagung soll sich mit der Veränderung von Evidenzverfahren im Zuge des digitalen Wandels auseinandersetzen. Ausgehend von Grundfragen derQuellenkritik im digitalen Zeitalter werden die neuen Bedingungen für die Evidenz historischer Inhalte diskutiert. Hier geht es zum einen um die Auswirkungen von Quellenverlust – durch fehlende Archivierung digitaler Kommunikation – und Quellenüberschuss v.a. durch die massenhafte Verfügbarkeit digitaler Schrift- und Bildquellen. Es gilt zu fragen, welche neuen Methoden im Bereich der Digital Humanities zur Verfügung stehen oder entwickelt werden müssen, um einen adäquaten Umgang mit genuin digitalen Quellen (born digitals) in Zukunft sicherstellen zu können. Dies reicht von der digitalen Forensik über die hermeneutische Analyse digitaler Korpora mit technischen Tools bis hin zu neuen Methoden der Qualitätssicherung.
Ein letzter Fokus richtet sich auf die politische Dimension des „Postfaktischen“ und ihre medialen Grundlagen. Gerade vor dem Hintergrund des Kriegs Russlands gegen die Ukraine, aber auch angesichts populistischer Herausforderungen für Demokratien soll reflektiert werden, wie im digitalen Raum Geschichte als Waffe, politisches Legitimationsinstrument und Element für Desinformation genutzt wird. In diesem Rahmen sollen Strategien der Diskreditierung und Etablierung von Normen- und Wertsystemen analysiert werden: etwa in Bezug auf Geschichtsvorstellungen, „Alternativ-“ und Gegenerzählungen in autoritären Systemen und populistischen Bewegungen, oder aber in Bezug auf die Infragestellung wissenschaftlich-historischer Erkenntnisse, wie sie beispielsweise in biologistischen Geschichtsbildern, der Infragestellung des Klimawandels oder Schöpfungsgeschichten von Kreationisten zu finden sind.
Die Konferenz steht in direkter Verbindung mit dem Historikertag 2023 in Leipzig zum Generalthema „Fragile Fakten“. Mit dem Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History konnte zudem eines der international wichtigsten Zentren der Digital History als Mitveranstalter gewonnen werden, ebenso das Ľviv Centre for Urban History, eines der zentralen Hubs für Digital Humanities in der Ukraine.
Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch (mit Übersetzung deutscher Beiträge ins Englische). Wir freuen uns über Vorschläge zu Einzel- und Gruppenpräsentationen. Schicken Sie bitte Titel, Kurzabstract (bis zu 15 Zeilen) und Kurz-CV in Englisch oder Deutsch bis 10. Dezember 2022 an Peter Haslinger peter.haslinger@herder-institut.de und Achim Saupe saupe@zzf.potsdam.de.