Jan Křen, 1930-2020
Am 7. April starb in Prag der tschechische Historiker Prof. Dr. Jan Křen im Alter von 89 Jahren an einer Infektion durch das Coronavirus. Die Geschichtswissenschaft der Tschechischen Republik verliert mit ihm einen ihrer scharfsinnigsten Köpfe und einen homo politicus, der die tschechoslowakische und die tschechische dissidentische Bewegung unter dem Staatssozialismus wesentlich mitgestaltete.
Jan Křen wurde am 22. August 1930 in Prag geboren. Ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg trat er in die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) ein und begann 1949 das Studium der Geschichte. Wenige Jahre nach dem Abschluss des Studiums wurde er Dozent am Lehrstuhl für Geschichte an der Prager Hochschule für Politik, die dem ZK der KPTsch unterstand. Später übernahm er auch einen Lehrstuhl an der Karls-Universität. Früher beruflicher Erfolg hinderte ihn nicht daran, sich in der Reformbewegung zu engagieren, die sich in den 1960er Jahren entwickelte und schließlich zum Prager Frühling führte. Öffentlicher Ausdruck dieses Engagements war die Berufung Křens (und seines Arbeitskollegen Václav Kural) in den Beraterstab von Josef Smrkovský, einem der führenden Akteure des Prager Frühlings.
In Folge des Prager Frühlings
Für seinen Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968 zahlte Křen einen hohen Preis: Im Zuge der ideologischen „Säuberung“ des Kultur- und Bildungsbereichs wurde er 1970 aus der KPTsch ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Er verlor alle akademischen Positionen und musste seinen Lebensunterhalt fortan rund zwei Jahrzehnte lang als einfacher Arbeiter der Prager Wasserwerke verdienen. Dass er seine wissenschaftliche Tätigkeit dennoch fortsetzte, ermöglichte vor allem – worauf er immer wieder hinwies – das solidarische Verhalten des Arbeitertrupps, mit dem er in einem Wohnwagen durch Böhmen zog, um Wasserstandsmessungen vorzunehmen.
Seine Forschungsinteressen konzentrierte Křen von Anfang an auf die Zeitgeschichte (Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Tschechoslowakischen Emigration im Zweiten Weltkrieg) und besonders auf die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen im späten 19. und im 20. Jahrhundert. Eine erste Fassung seines großen Werkes über die „Konfliktgemeinschaft“, d.h. über das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen im Zeitraum 1780-1918, erschien 1986 als Samizdat-Ausgabe und drei Jahre später in gekürzter Form bei Sixty-Eight Publishers in Toronto. In der Samisdat-Literatur des Dissents, dem Křen als Gründungsmitglied der Charta 77 angehörte, veröffentlichte er um die Mitte der 1980er Jahre mehrere kritische Studien zu methodisch-konzeptionellen Fragen der tschechoslowakischen Geschichtswissenschaft und nahm damit vieles von den Diskussionen vorweg, die nach 1989 über die Erneuerung der Geschichtswissenschaft in der Tschechoslowakei geführt wurden.
Großen Anteil hatte Jan Křen an den Lehrveranstaltungen der Untergrund-Universität in Prag, die in den 1980er Jahren in den Wohnungen von Dissidenten organisiert wurde. Der politische Charakter der methodologischen Studien Křens ergab sich daraus, dass er den Abbau der Barrieren forderte, die das kommunistische Regime der Kooperation mit den Historiographien der westlichen Welt entgegensetzte und so die Provinzialisierung der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung betrieb. Eine erste Bresche in diese Abschottung konnte 1982 geschlagen werden, als der Bremer Bürgermeister Hans Koschnick die Zustimmung der KPTsch-Führung dazu erhielt, dass Jan Křen und Václav Kural zu einem einjährigen Aufenthalt (1983-1984) als Gastprofessoren an der Bremer Forschungsstelle Osteuropa und an der Universität Bremen ausreisen durften.
Rückkehr an die Karls-Universität
Nach der Samtenen Revolution von 1989 und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus kehrte Jan Křen als Professor an die Karls-Universität zurück. Dank seiner Initiative wurde an der neu gegründeten sozialwissenschaftlichen Fakultät ein Institut für internationale Beziehungen eingerichtet, das sich unter Křens Leitung vorwiegend deutschen und österreichischen Studien widmete. Für Křens Versuch, das traditionelle Verständnis der tschechisch-deutschen Beziehung als ein von der (imaginären) Substantialität des Nationalen beherrschtes Verhältnis in den nachvollziehbaren Formen kultureller Vergemeinschaftung aufzulösen, bot die 1990 gegründete Tschechoslowakisch-deutsche Historikerkommission (mit Křen als Ko-Vorsitzendem) ein geeignetes Forum. An den methodisch-konzeptionellen Gewinnen der Kommission in der Analyse der Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen und daran, dass die Diskussionen der Kommission überkommene Denkmuster hinter sich ließen, hatte Křen maßgeblichen Anteil.
Einem größeren Publikum in Deutschland wurde er bekannt, als 1996 in München eine deutsche Übersetzung der „Konfliktgemeinschaft“ erschien und wenig später auch eine Studienausgabe des Buches. Rezipiert wurde Křen hierzulande nicht nur als Historiker. Als Jürgen Habermas, der an der Prager Universität im Untergrund Vorlesungen gehalten hatte, 1993 das politische Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland analysierte („Vergangenheit als Zukunft“), berief er sich bei seinen Überlegungen zum Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn auch auf Křens positive politische Sicht des Vereinigungsprozesses.

Křens wissenschaftliches Vermächtnis
Wer Jan Křen näher kannte, wird in Erinnerung behalten, wie freundlich und liebenswürdig er mit anderen Menschen umging. Křens wissenschaftliches Vermächtnis besteht darin, dass Forschungen über mitteleuropäische nationale Konfliktszenarien, die ernst genommen werden wollen, künftig nicht mehr auf die Mystifizierung ihres Themas zurückfallen sollten. Andererseits haben Křens gesellschaftspolitische Konzepte keine Anwendung auf die postkommunistische Republik gefunden. Seine vehemente Kritik an den Modalitäten der Privatisierung des staatssozialistischen Eigentums nach 1989 gründete auf dem Zweifel daran, dass die neoliberale postkommunistische Republik eine hinreichende soziale Integration ihrer Bürger sicherstellen würde. Wirkungsvoll könne vielmehr nur eine Form der Integration sein, die das demokratisch-sozialistische Erbe von 1968 aufnahm und die Teilhabe der Staatsbürger durch partizipative Organisation aller gesellschaftlichen Bereiche festigte.
Peter Heumos, Moosburg