Wozu historische Ostmitteleuropaforschung? – und was wir aus der Geographiegeschichte lernen können!
Ein Beitrag von Patrick Reitinger, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Die stark polemischen und größtenteils holzschnittartigen Äußerungen zu Zustand und Zukunft der historischen Ostmitteleuropaforschung bei Markus Krzoska, Kolja Lichy und Konstantin Rometsch (2018) sind für sich genommen eigentlich nicht neu. Im Kern treffen sie die immer wieder aufgeworfene Frage, womit sich ein Konzept Ostmitteleuropa rechtfertigen lässt, was sich dahinter eigentlich genau verbergen soll und warum sich eine Beschäftigung damit lohnt. Und natürlich, die seit mehr als 100 Jahren unter verschiedenen historischen Voraussetzungen immer wieder versuchten Kategorisierungen von Mitteleuropa, Zentraleuropa, Ostmitteleuropa und anderen vermeintlichen Containerkonzepten zeigt, dass bis heute wohl keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden werden konnte.
Nun könnte es eine legitime Forderung an die Wissenschaft sein, diesen wohl scheinbar ungeklärten Kategorisierungen auch künftig auf den Grund zu gehen. Gewiss kann auch gefragt werden, wo der Mehrwert in diesen kritischen Auseinandersetzungen liegt und ob eine (kritische) Positionierung für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt überhaupt nötig ist. Egal, wie man sich entscheidet, so liegt beim Lesen des Aufsatzes der drei Autoren im Journal of Modern European History aber doch die Vermutung nahe, die vier genannten Schlussfolgerungen (S. 61f.) wären anders ausgefallen, würden die Autoren über detailliertere Kenntnisse der universitären und außeruniversitären Forschung zu Ostmitteleuropa verfügen.
Gesellschaftlich scheint eine Fokussierung auf Ostmitteleuropa zunächst kein Problem zu sein. Im Gegenteil, ein kontinuierlicher Blick in die deutsche und internationale Presselandschaft zeigt, dass ostmitteleuropäische Staaten immer wieder im Zentrum des Interesses stehen. Jörg Forbrig und Wojciech Przybylski machen die genannte Region sogar zum „Labor, in dem sich die Zukunft des [europäischen, P.R.] Kontinents besichtigen lässt.“ Illiberale Demokratien, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus und Europaskeptizismus werden in den gegenwärtigen gesellschaftlichen und medialen Diskussionen mittlerweile sehr häufig mit den Staaten der Visegrád-Gruppe in Verbindung gebracht. Sicherlich kann alleine aus dieser gesellschaftlichen Problembeschreibung heraus keine Legitimation für eine (historische) Ostmitteleuropaforschung erfolgen. Wäre das der Fall, könnte das den Vorwurf von Krzoska, Lichy und Rometsch bestätigen, dass die (historische) Ostmitteleuropaforschung „offensiv ihre Rolle im Kontext der area studies als politische Verwertungswissenschaft“ (S. 61) etabliert.
Wenn wir uns auf das Gedankenexperiment einlassen und die historische Ostmitteleuropaforschung für überflüssig erklären oder sie in einer wie auch immer aussehenden europäischen oder gar Globalgeschichte aufgehen lassen – was würde folgen? Dieses hypothetische Experiment lässt sich sicherlich nur schwer zu Ende spielen, und die institutionelle, aber auch die historische Entwicklung der historischen Ostmitteleuropaforschung kann nur schwer mit Prozessen in anderen Disziplinen verglichen werden. Aber vielleicht lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Geographie, wenn wir eine Ahnung davon bekommen möchten, was passiert, wenn eine explizite regionale Fokussierung der Forschung fast komplett ausbleibt.
Kiel 1969 – Der Umbruch!
Ute Wardenga zeichnet in einem aktuellen Beitrag in der Geographischen Rundschau anlässlich des 70. Geburtstags der Zeitschrift auf kompakte Weise die zentralen Entwicklungsschritte von der längst überwundenen Länderkunde zu den aktuellen Geographien des Regionalen nach (vgl. Wardenga 2019). Die Geographie hat ähnlich wie die historische Ostmitteleuropaforschung damit zu kämpfen, dass sie in ihrer historischen Entwicklung lange Zeit von politischen Interessen gesteuert wurde und nur durch eine vermeintliche gesellschaftspolitische Notwendigkeit ihre Existenzberechtigung erhielt. Die enge Verstrickung der Geographie mit nationalistischen und nationalsozialistischen Fragen der Geopolitik im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der einen Seite und mit Schul- und Bildungsfragen auf der anderen Seite lässt die Geographie bis in die 1960er Jahre im Klammergriff großpolitischer Machtinteressen. Umso befreiender scheint dann der Mythos des Kieler Geographentages von 1969 zu sein, wo endlich im Kontext des neuen, vermeintlich linken Zeitgeistes mit den alten, vor allem rechten und reaktionären Vorstellungen innerhalb der Geographie abgeschlossen wird. Dieser Kongress war deshalb so wichtig für die akademische Geographie, weil die politische Forderung von vor allem studentischen Fachschaften in der Folge tatsächlich aufgegrifen und umgesetzt wurde: Die bisher traditionelle Länder- und Landschaftskunde müsse abgeschafft und durch eine stark quantitativ orientierte, allgemein-geographische und regionalwissenschaftliche Geographie nach internationalem Vorbild ersetzt werden – ein Erfolg, der bis heute in Teilen der Disziplin noch immer spürbar ist. Die Geographie änderte sich danach nicht nur in der Hinsicht, dass sie sich von vorrangig historischen Erklärungsansätzen löste. Gerade die Historische Geographie und insbesondere die historische Kulturlandschaftsforschung haben im Nachgang an die Veränderungen nach Kiel einen schweren Stand. Im Mittelpunkt stehen jetzt vor allem aktualistische Forschungsperspektiven, im besten Falle stark quantifizierend, mit dem Ziel, zentrale Herausforderungen der Zukunft zu meistern und den Blick in die dunkle, zum großen Teil auch braune Vergangenheit sein zu lassen.
Mit der Abwendung von historischen Forschungsperspektiven folgte auch ein Abschließen mit der traditionellen Länderkunde und dem bisher prominenten länderkundlichen Schema. Dieses Schema gab eine spezifische Reihenfolge vor, die im Rahmen geographischer Forschung abgearbeitet werden sollte: Von Oberflächenformen, Klima und Wasser über Böden, Vegetation und Tierwelt bis zu Bevölkerung, Siedlung, Wirtschaft und Verkehr. Länderkunde sollte dabei eine Gesamtübersicht aller einzelnen Geofaktoren für bestimmte Regionen und Länder darstellen. Ute Wardenga zeigt, dass der Impuls für diese Veränderungen gar nicht so sehr aus der geographischen Wissenschaft selbst kam. Vielmehr waren es schulpolitische Reformen zu Beginn der 1960er Jahre, die die Geographie vor die Herausforderung stellte, den künftigen Geographieunterricht an den Schulen neu vorzubereiten (vgl. Wardenga 2019, S. 49). Die nun sich neu entwickelnde Regionale Geographie löste sich von bisherigen Perspektiven auf den Naturraum oder die historisch gewachsenen Kulturlandschaften. Raumkonzepte und Raumbilder pluralisierten sich, und damit veränderte sich auch der Blick auf vermeintliche Container- oder Kulturräume. Aus der Länderkunde wurden zunächst die Regionale Geographie und im Laufe der Zeit ganz verschiedene Regionale Geographien. Neben den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die dieser Perspektivwechsel ermöglichte, bleibt bis heute aber auch die kritisch-politische Haltung in weiten Teilen der Geographie erhalten, mit der alten Geographie – und damit auch mit den alten Konzepten – nichts mehr zu tun haben zu wollen. Ute Wardenga sieht mittlerweile auch das Ende der Pluralisierung Regionaler Geographien gekommen und leitet über zu einer nun neuen Perspektive, die Regionalität ohne die damit verbundenen containerartigen Aufladungen untersucht (S. 51). Das Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig (das in seinem Namen noch immer das historisch belastete Wort Länderkunde mit sich führt) zeigt mit seiner aktuellen Forschungsstrategie, in welche Richtung die Entwicklung gehen könnte, indem es ein neues Forschungsprogramm als „Geographien des Regionalen“ bezeichnet.
Kiel 2019 – Ein Aufbruch?
Es ist heute nicht mehr schick, „offiziell“ Regionale Geographie zu betreiben. Von Geographinnen und Geographen werden vielfältige regionale Kenntnisse erwartet, Spezialisierungen auf eine Region werden aber oft als zu einseitig orientiert abgelehnt. Dies führt dazu, dass manche Geographinnen und Geographen an deutschen Universitäten Forschungen in China ebenso betreiben wie in Südafrika und in Honduras. Und gewiss, aus der Globalgeschichte wissen wir mittlerweile über die Vorzüge einer Auflösung des eurozentristischen Containerdenkens. Diese neuen Perspektiven führen natürlich auch zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fortschritten. Doch wirklich tiefes Wissen über die unterschiedlichen historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen von Gesellschaften in den verschiedenen Teilen der Welt bleiben im Kontext des akademischen Alltags (und den wenigen zeitlichen und ökonomischen Ressourcen für intensive Tiefenforschung) zu oft auf der Strecke – ganz zu schweigen von den oft mühsamen und langjährigen Prozessen des Sprachenlernens, um auch wirklich intensive historische oder aktualistische Forschung in den unterschiedlichen Teilen der Welt betreiben zu können. Die Beschäftigung mit angeblichen regionalgeographischen Containern, die aufgrund ihrer Größe und internationalen politischen Bedeutung vielleicht nicht zu den führenden Nationen dieser Welt gehören, werden fast gänzlich unattraktiv.
Dieses Schicksal hat die Geographische Ostmitteleuropaforschung erfahren. Im Zuge all dieser allgemeinen Entwicklungen innerhalb der Geographie in den letzten 50 Jahren ist das Interesse an den Ländern Ostmitteleuropas innerhalb der deutschsprachigen Community fast komplett erloschen. Beleg dafür ist der diesjährige Deutsche Kongress für Geographie, der – 50 Jahre nach dem Kieler Geographentag 1969 – an den Ort der wissenschaftlichen Zäsur zurückkehrt: Eine Fachsitzung, die gezielt einen Überblick über die existierende Forschung zu Ostmitteleuropa in der deutschsprachigen Geographie geben möchte, blieb ohne einen einzigen Beitragsvorschlag. Stattdessen ergab sich etwas anderes, womit die Organisatoren einer Fachsitzung zur Zukunft der Historischen Geographie nicht gerechnet haben: Mehr als 50 % der Beitragsvorschläge für diese Sitzung hatten einen eindeutigen historisch-geographischen Bezug zu Ostmitteleuropa – ein Umstand, der dazu führte, dass die Zukunft der Historischen Geographie nun in einem weiteren eigenständigen Panel ausschließlich über regionalgeographische Perspektiven auf Ostmitteleuropa beleuchtet wird.
Ein Blick in den Forschungsstand lohnt sich!
Es wird eines der Ziele beim Deutschen Kongress für Geographie sein, zu diskutieren, warum gerade Historische Geographinnen und Geographen – im Gegensatz zu aktualistisch arbeitenden Geographinnen und Geographen – in ihren Studien und Projekten immer wieder mit dem östlichen Mitteleuropa zu tun haben. Dies könnte, so eine starke Vermutung, auch ein Verdienst der historischen Ostmitteleuropaforschung sein. Denn vor allem auch die institutionelle und außeruniversitäre Stellung dieser Forschungstradition macht es für Historische Geographinnen und Geographen attraktiv, eine Scientific Community zu finden, bei der die eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse anschlussfähig sind – etwas, das innerhalb der deutschsprachigen Geographie noch wenig ausgeprägt ist. Ein Blick in die Forschung zum östlichen Mitteleuropa sowohl innerhalb der Historischen Geographie als auch der Geschichtswissenschaften zeigt, dass die Kolleginnen und Kollegen keineswegs unkritisch an ihre Raumkonstruktionen herangehen. Wer sich tatsächlich intensiver mit den Forschungsergebnissen der letzten Jahre und Jahrzehnten innerhalb dieser Community beschäftigt, wird feststellen, dass zahlreiche theoretische und methodologische Diskussionen aus dem interdisziplinären Kontext aufgenommen und fruchtbar weiterentwickelt wurden. Niemand in der Historischen Geographie oder der historischen Ostmitteleuropaforschung arbeitet heute noch im Geiste des alten länderkundlichen Schemas. Niemand geht mit Grenzziehungen, Nationskonzepten und Identitätskonstruktionen unreflektiert um. Niemand widmet sich nur einem kleinen Containerraum und verwendet kulturräumlich-essenzialistische Argumente bei den eigenen Untersuchungen.
Das Konzept Ostmitteleuropa muss immer wieder kritisch hinterfragt werden und mit aktuellen Entwicklungen im interdisziplinären und internationalen Forschungskontext abgeglichen werden. Genau das passiert – bei den regional und historisch arbeitenden Geographinnen und Geographen genauso wie bei den Historikerinnen und Historikern und anderen historischen Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern. Würde dies nicht so sein, würden Beiträge wie der von Markus Krzoska, Kolja Lichy und Konstantin Rometsch nicht immer vor allem deshalb auffallen, weil sie eben keine konkreten Beispiele bringen, wo sie Kolleginnen und Kollegen des unkritischen Dilettantismus überführen. Aus der Geographiegeschichte wissen wir, dass bloße Kritik der Kritik willen dazu führen kann, dass sie irgendwann unproduktiv wird. Und aus der Soziologie wissen wir – nicht erst seit Niklas Luhmann – dass Komplexitätsreduktionen notwendig sind, um Kommunikation möglich zu machen. Das Konzept Ostmitteleuropa tut genau das: Es reduziert Komplexität und macht es möglich, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen kritisch und reflektiert über einen immer wieder sozial konstruierten, fluiden und offenen Raumausschnitt der Erdoberfläche in all seiner historischen und aktualistischen Tiefe austauschen können. Und dass dieser Austausch auch noch produktiv ist, zeigt der aktuelle Forschungsstand – ein Blick hinein ist sicherlich lohnenswert und rückt das eine oder andere Argument noch einmal etwas zurecht.
Literatur:
• Krzoska, Markus, Kolja Lichy & Konstantin Rometsch, Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16 [1] 2018, S. 40-63.
• Wardenga, Ute, Von der Länderkunde zu Regionalen Geographien, in: Geographische Rundschau in: Geographische Rundschau / 70 Jahre Geographische Rundschau – wo die Geographie heute steht, S. 46-51.