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Blinde Flecken in der Revaler Migrationsgeschichte

Das Bürgerbuch und die Ratsprotokolle

Ein Beitrag von Martin Klöker, Osnabrück/Tallinn

Die Ratsprotokolle der Stadt Reval (heute Tallinn) sind eine wichtige Quelle für die neuzeitliche Migrationsgeschichte Estlands. In den Protokollen wurden auch die Bürgereide von Revaler Neubürgern dokumentiert. Nicht in allen Fällen kam es zu Vermerken dieser Eidleistungen im Bürgereidbuch (auch kurz: Bürgerbuch), das eine viel genutzte Quelle darstellt. Somit lohnt sich ein genauer Blick in beide Aufzeichnungen um ein vollständigeres Bild von der Revaler Migrationsgeschichte zeichnen zu können.

Beim Durchsehen der Revaler Ratsprotokolle aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts habe ich die Einträge von Bürgereiden gesehen und bemerkt, dass viele davon nicht im Bürgerbuch enthalten sind. Nach Auskunft des Stadtarchivs (Tallinna Linnaarhiiv) sind die Ratsprotokolle aus dem Blickwinkel der Bürgereide bisher nicht durchgearbeitet worden, und es gibt auch keine diesbezüglichen Publikationen.

Um einen ersten Eindruck davon zu geben, wie bedeutend die Ergänzungen zum Bürgerbuch II (1624-1690) sind und was man mit diesen Daten anfangen kann, habe ich begonnen, meine Funde systematisch zusammenzustellen. Das ist noch unvollständig, aber zeigt meines Erachtens doch, dass sich die systematische Durchsicht lohnen würde, ja mehr noch: absolut notwendig ist.

Nachweise im Bürgerbuch sind teilweise lückenhaft

Denn die viel und gern benutzten Nachweise im Bürgerbuch sind zum Teil äußerst lückenhaft. Zudem ist der Abgleich der Einträge, sofern eine Person jeweils im Bürgerbuch und im Ratsprotokoll erfasst wurde, manches Mal hilfreich, immer zumindest eine Gegenkontrolle. Unterschiede sind zu finden etwa beim Datum, bei der Angabe der Personendaten (Vorname, Nachname, Herkunft, Beruf) oder bei der Angabe einer Hochzeit (inklusive Name der Braut und ihres Vaters). Da solche Abweichungen zuweilen bereits in der Edition des Bürgerbuchs markiert wurden, ist offensichtlich, wie wertvoll ein solcher Abgleich wäre, wenn er vollständig durchgeführt werden und damit verlässlich sein könnte.

Für die Jahre 1650-1656 habe ich mittlerweile belastbare Daten gesammelt, für die vorhergehenden Jahre wurde nur sporadisch notiert. Allerdings sind dort anscheinend mehr Ergänzungen zu finden:

für 1634: im RBB 11         – Ergänzung im Ratsprotokoll: ?

für 1635: im RBB 6           – Ergänzung: ?

für 1636: im RBB 16         – Ergänzung: ?

für 1637: im RBB 16         – Ergänzung: ?

für 1638: im RBB 16         – Ergänzung: ?

für 1639: im RBB 8           – Ergänzung: mindestens 1

für 1640: im RBB 4           – Ergänzung: mindestens 4

für 1641: im RBB 21         – Ergänzung: ?

für 1642: im RBB 25         – Ergänzung: mindestens 1

für 1643: im RBB 20         – Ergänzung: mindestens 5

für 1644: im RBB 12         – Ergänzung: ?

für 1645: im RBB 12         – Ergänzung: ?

für 1646: im RBB 11         – Ergänzung: mindestens 5

für 1647: im RBB 9           – Ergänzung: mindestens 1

für 1648: im RBB 10         – Ergänzung: ?

für 1649: im RBB 16         – Ergänzung: ?

für 1650: im RBB 9           – Ergänzung: 1

für 1651: im RBB 18         – Ergänzung: 5

für 1652: im RBB 32         – Ergänzung: 0

für 1653: im RBB 19         – Ergänzung: 0

für 1654: im RBB 35         – Ergänzung: 0

für 1655: im RBB 24         – Ergänzung: 1

für 1656: im RBB 22         – Ergänzung: 0

Nicht alle Einträge im Bürgerbuch sind auch im Ratsprotokoll verzeichnet, was sicherlich auch berücksichtigt und näher untersucht werden müsste. So sind beispielsweise 13 von 32 Personen im Jahre 1652 nicht im Ratsprotokoll genannt, zugleicht enthält das Protokoll keine Ergänzung zum Bürgerbuch.

Für 1655 hingegen sind nur 3 von 24 Personen nicht im Ratsprotokoll enthalten, während dort eine Ergänzung zu finden ist. Wie gesagt, diese Daten sind nur sinnvoll in der Menge zu erheben und zu verwenden.

Bisherige Aussagen zur Revaler Bürgerschaft sind problematisch

Vor diesem Hintergrund sind bisherige Aussagen über die Entwicklung der Revaler Bürgerschaft – gerade auch im Hinblick auf Migration – in jedem Fall problematisch, wenn nicht grundsätzlich zu revidieren.

Georg Adelheim schrieb dazu (RBB II, 1933, S. XI-XII): „Wie aus dem ältesten B.E.B. [i.e. Bürgereidbuch – MK] zu ersehen, betrug am Vorabende des 30-jährigen Krieges (1617) die Zahl der Neubürger Revals 34, um gleich darauf auf 7 zu sinken und während der ganzen nun folgenden 30-jährigen Periode ist nur ein Mal (1642) deren Anzahl auf über 20 gestiegen. Ein Aufstieg setzt 1652 mit 32 Neubürgern ein, im Pestjahr 1657 sinkt diese Zahl auf 5, um gleich darauf wieder stark zu steigen. […].“

Ergänzend ist zu betonen, dass die Einträge im Ratsprotokoll gerade auch wegen der Einladung des Rates zur Hochzeit und – in der Regel – einer Nennung der Braut mitsamt Vater wertvolles kulturgeschichtliches Material darstellen. Denn hier sind beispielsweise Informationen zur familären Verflechtung der Bürgerschaft oder zu den Berufen der Personen, zur Häufigkeit von Hochzeiten oder zur Wiederheirat von verwitweten Frauen zu finden. Die gleichzeitige Einladung des Rates ist kein Zufall, da der Bürgereid gemäß Bestimmung von 1589 bei der Hochzeit abgelegt werden musste. So heißt es im ältesten Bürgerbuch (RBB I, 1932, S. 93) beim ersten Eintrag des Jahres 1589: „Caspar van der Lyppe hat den burgerlichen Eydt, wie er zu seiner Hochzeit gebeden, geleistet. Solchs soll auch hinfurder alß gehalten werden wie ein erbar Radt mit der gemeinheit beschlossen.“ Wenn man die Einladungen zur Hochzeit systematisch ohne Beschränkung auf das Ablegen des Bürgereides in eine Datenerhebung mit einbezieht, so lassen sich auch viele Gelehrte in der Stadt erfassen.

Sie mussten nach dem ständischen Recht den Bürgereid nicht ablegen und taten dies in der Regel auch nicht, waren aber als Stadtbewohner nicht selten wichtige Funktionsträger, etwa als Syndikus oder Ratssekretär, als Prediger oder Arzt. Häufig wird in die Bürgerschaft eingeheiratet und Nachkommen werden zu Bürgern oder wiederum Gelehrten in der Stadt. Der städtischen Genealogie als sozialgeschichtlichem Erklärungsmuster für bürgerlich-gelehrtes Leben und Handeln wird auf diese Weise maßgeblich zugearbeitet.

An diesem Beispiel wird offensichtlich, dass Grundlagenforschung so unumgänglich wie notwendig ist. Es steht zu hoffen, dass den Geisteswissenschaften diese Erkenntnis jenseits aller dem Zeitgeist geschuldeten Turns und Trends nicht verloren geht und sowohl die wissenschaftliche Infrastruktur als auch eine Finanzierung des Personals für solche Basisarbeit bereitgestellt wird.

Literatur:

Georg Adelheim (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch 1624-1690 nebst Fortsetzung bis 1710 (=Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv 7), Reval 1933. Digitalisiert verfügbar: urn:nbn:de:bvb:355-ubr16764-6

Bildmaterial:

Zu Reval hat der Online-Bildkatalog des Herder-Instituts mehr als 1200 Treffer: https://www.herder-institut.de/bildkatalog/

 

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