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Das St. Marien-Asyl zu St. Petersburg

Momentaufnahmen aus einer bemerkenswerten Sozialeinrichtung bei der St. Annen-Kirche in der russischen Hauptstadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Vor kurzem konnte das Herder-Institut ca. 600 Bücher aus dem ehemaligen deutschbaltischen Alten- und Pflegeheim Gestorf bei Hannover (im Kern die Bibliothek von Pastor Eduard Steinwand, 1890-1960) als Geschenk des Deutschbaltischen Kirchlichen Dienstes übernehmen. Wie es häufig ist, befinden sich in solchen „Bibliotheken“ nicht allein Bücher und Zeitschriften, sondern vielfach auch Unterlagen, die archivalischen Charakter haben und damit in ein Archiv gehören.

Im vorliegenden Falle handelt es sich unter anderem um 5 Schriftstücke zur Tätigkeit des St. Marien-Asyls bei der St. Annen-Kirche in St. Petersburg:

  1. Drei Poster, alle aus dem Jahre 1859, alle gedruckt bei W. F. Häcker in Riga.
  2. Ein Jahresbericht „Das St. Marien-Asyl bei der evangelisch-lutherischen St. Annen-Kirche zu St. Petersburg in dem Zeitraume vom 1. Januar 1867 bis zum 1. Januar 1868“, 11 S., gedruckt bei Gebr. Krug in St. Petersburg.
  3. Torso einer Drucksache wohl von 1861, S. 17 mit der „Rechnung des Marien-Asyls“ für die Jahre 1854-1864, auf der Rückseite (S. 18) eine Aufstellung über die „Mitglieder des am 12. Mai 1857 auf Befehl Ihrer Kaiserlichen Majestät bestätigten Verwaltungsrathes des Marien-Asyls“.

Allein diese wenigen Splitter aus der Tätigkeit des Marien-Asyls geben vielfältige Einblicke in das organisatorische und geistige Leben dieser Einrichtung. Auf einiges sei kurz hingewiesen:

  • Die Drucksachen weisen auf die Gründung der Einrichtung im Jahre 1844/45 hin.
  • Sie sind selten genutzte Quellen zur Personenkunde, wobei die hier gebotenen Daten zusammen mit anderen reichen Einblick in die sozialen Verhältnisse der Hauptstadt Rußlands bieten. Es werden zahlreiche Personen genannt, die mit dem Marien-Asyl verbunden sind: solche, die 1857 zum „Verwaltungsrat“ und 1868 zum „Direktorium“ bzw. zum „Lehr– und Verwaltungspersonal“ gehören, andere, die die 1868 bestehenden insgesamt 56 „Stiftungen von Freistellen im St. Marien-Asyl“ vorgenommen haben – eine beeindruckende Reihe von russischen und deutschen, sehr oft deutschbaltischen, Wohltätern bürgerlichen, vor allem aber auch adeligen Standes. Es folgt eine Aufstellung „Die Stiftungen und Pensionsstellen des St. Marien-Asyls sind wie folgt besetzt“ mit 46 namentlich genannten Bewohnern, 14 Jungen und 33 Mädchen; die Familiennamen sind überwiegend deutsch, nicht wenige russisch, in einem Fall handelt es sich offenbar um ein jüdisches Kind. Ferner gibt es eine Liste von 152 namentlich genannten Spendern, in der Mehrzahl Deutsche, nicht wenige Deutschbalten.
  • Das eine (hier abgebildete) Poster (Format: 73 cm x 53 cm) zeigt die „Haus-Ordnung für das St. Marien-Asyl“ mit seinen 7 Paragraphen. Der erste lautet: „In dieses Haus werden aufgenommen: Mädchen bis zum 15ten, Knaben bis zum Beginn des 10ten Jahres.“
  • Das andere (31 cm x 40 cm) informiert über die „Eintheilung der Tageszeit“, zwischen „Aufstehn“ und „Schlafengehen“, getrennt nach Sommer und Winter.
  • Das dritte (31 cm x 40 cm) betrifft die „Vertheilung der Arbeit im St. Marien-Asyle“. 7 Paragraphen regeln die Pflichten des Hausvaters, der Hausmutter, der „Gehülfinnen“, der „Knechte und Mägde“ und der „Kinder“.
„Haus-Ordnung für das Marien-Asyl“ von 1859
„Haus-Ordnung für das Marien-Asyl“ von 1859, Dokumentesammlung Herder-Institut, Signatur: DSHI 140 Rußland 65

Bedeutende Gemeinde Rußlands

Die St. Annen-Kirche in St. Petersburg gehörte zu den gesellschaftlich bedeutendsten Gemeinden Rußlands: „Es gehörten zu ihr die evangelischen Verwandten des Kaiserhauses…; es gehörten zu ihr viele Glieder des baltischen Adels, die höchste Hofämter und erste Stellungen in der Armee, Verwaltung und der Diplomatie inne hatten…; und es gehörten zu ihr viele deutsche Literaten und reichsdeutsche Großkaufleute.“ (so Pastor Arthur Malmgren, zitiert nach: Margarete Busch: Deutsche in St. Petersburg 1865-1914. Essen 1995, S. 116).

So mag ein Zufallsfund wie dieser Anlaß zu systematischen Nachforschungen geben, in deren Verlauf andere, sicher auch weit umfangreichere Unterlagen zur Geschichte des Marien-Asyls in St. Petersburg ermittelt werden können, die eine gründliche Beschäftigung mit dieser Einrichtung und eine Würdigung ihrer Tätigkeit ermöglichen.

Dorothee M. Goeze und Peter Wörster

Ein Gedanke zu „Das St. Marien-Asyl zu St. Petersburg

  • Hans-Peter Kunisch

    Liebe Frau Goeze, lieber Herr Wörster,
    finde gerade ihre Angaben zum Fund, das St.Marien-Asyl in Petersburg ist vermutlich nicht das „Reformierte Asyl, Ecke 21. Linie/ Großer Prospekt“, das mein Urgroßvater Christian Mauch, 1818 geboren, als „Hausvater“ ab 1861 geleitet hat?
    Wenn doch, würde mich das interessieren.
    Herzlich grüßt Hans-Peter Kunisch

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